Das bewegte Kleid – Portrait Madeleine Vionnet
Madeleine Vionnet – Die Kunst sei die Reduktion auf das Wesentliche, sagte einst ein kluger Kopf. So gesehen war die französische Modeschöpferin Madeleine Vionnet eine ganz große Künstlerin. Ihre Schnitte bildeten meist nicht mehr als simple geometrische Grundformen wie Rechteck, Dreieck oder Kreis ab. Kunstvoll drapiert aber entstanden daraus zeitlos schöne Roben, die ohne Futter und das ganze Aufgebot an Knöpfen, Schleifen, Häkchen, Rüschen und Spitzen auskamen und das „orthopädische Ding”, das Korsett, überflüssig werden ließen. Sie war wohl die einzige Modeschöpferin, der die Kunst gelang, aus vier gleich großen, rechteckigen Stoffteilen eine überwältigende Abendrobe zu machen, die nicht wie ein nasser Sack an seiner Trägerin herunterhing.
Als Madeleine Vionnet 1975 hochbetagt im Alter von fast 99 Jahren in Chilleurs-aux- Bois, Loiret verstarb, kürte Diana Vreeland, die ehemalige Chefredakteurin der amerikanischen Vogue sie zur „wichtigsten Modeschöpferin des 20. Jahrhunderts“. Für Cristobal Balenciaga war sie gar eine „Meisterin des Stils“. Und Azzedine Ala¨ıa nannte sie „die Quelle von allem, die in unserem Unbewussten weiterlebt“. Soviel Ansehen war Madeleine Vionnet zeitlebens nur bedingt vergönnt, obwohl sie beinahe dreißig Jahre lang den Kleidungskodex von Paris prägte. „Ich habe gezeigt“, sagte sie stolz, „dass ein Stoff, der ohne Panzerung frei über einem Körper liegt, ein harmonisches Spektakel par excellence sein kann.” Dennoch sahnten ihre beiden Erzrivalinnen Elsa Schiaparelli und Coco Chanel den Ruhm ab, auch weil die sich besser zu vermarkten wussten und sich als exzentrische Stilikonen inszenierten. Das lag Vionnet überhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihnen, die autodidaktisch zu ihrer Kunst gekommen waren, hatte sie das Nähhandwerk von der Pike auf erlernt.
Schockierte Verkäuferinnen
Am 22. Juni 1876 in Chilleursaux-Bois, in der Nähe von Orléans geboren, wuchs sie nach der Scheidung ihrer Eltern in Aubervilliers, an der schweizerisch-französischen Grenze bei ihrem Vater auf. Obwohl sie eine begabte Schülerin war gab der Vater sie in eine Schneiderlehre in Paris. Mit kaum zwanzig Jahren ging sie nach London, um sich im Modehaus von Kate Reilly fortzubilden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits eine Ehe hinter sich und ihr neun Monate altes Kind zu Grabe getragen. Fünf Jahre später heuerte sie wieder in Paris an, zunächst als Zuschneiderin von Nesselstoffmodellen und Schnittentwerferin im Modeatelier Callot Soeurs, dann bei Jacques Doucet, der ihr anbot eine eigene Linie zu verwirklichen. Ihre ersten hauchzarten, an Déshabillés orientierten Gewänder ohne Korsett empörten nicht wenige, Verkäuferinnen weigerten sich, die „wäschigen“ Entwürfe anzubieten.
Doch sie ließ sich nicht beirren: Mit einem Startkapital von 100.000 gesparten und 200.000 geborgten Francs eröffnete sie 1912 ihren ersten eigenen Salon in der Pariser Rue de Rivoli Nummer 222, musste ihn aber bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wieder schließen. 1922 eröffnete sie ein neues Haus Vionnet auf der Avenue Montaigne. Hier konnte sie nun endlich ihre freie Art des Entwurfs verfeinern und perfektionieren. Eine Architektur des Kleides entstand, zeitenthoben schön, mit mal schlicht geraden, dann aber wieder reich bewegtem Faltenwurf, inspiriert von den Gewändern auf den Vasen und Skulpturen der griechischen Antike. Von nun an zierten Fresken auf denen griechische Schönheiten in Vionnet-Entwürfen zu sehen waren, die Wände ihres Modehauses in der Avenue Montaigne. Das Interesse dafür hatte in ihr womöglich die Tänzerin Isadora Duncan (1877-1927) geweckt, die seinerzeit den altgriechischen Chortanz zu neuem Ausdruck verholfen hatte.
Der Diagonalschnitt
Vionnets Credo blieb stets das gleiche: „Wenn eine Frau lächelt, muss ihr Kleid mit ihr lächeln“. Issey Miyake, selbst ein Schnittmeister unter den Designern, brachte es auf dem Punkt: „Ich glaubte, dass die Nike-Statue durch die Kleider der Vionnet wieder zum Leben erweckt worden sei. Sie hatte den schönsten Aspekt der klassischen griechischen Ästhetik eingefangen: den Körper und die Bewegung.“ Gelingen konnte dies nur durch eine fast mathematisch genaue Umsetzung ihrer Beobachtungen im geometrischen Schnitt eines Kleides. Durch Zufall hatte sie eine Technik entdeckt, die noch heute zu den wichtigsten Techniken der Haute Couture zählt: der Diagonalschnitt. Beim Drapieren eines Stoffes um eine Holzpuppe hatte sie festgestellt, dass der Stoff, diagonal gelegt, sehr viel besser falle. So entstand der körperbetonte Bias-Cut: Der Stoff wird nicht wie üblich parallel, sondern schräg zum Fadenverlauf im 45-Grad-Winkel zugeschnitten und umspielt dadurch die Silhouette fließend. Durch den Diagonalschnitt konnte sich der Stoff an weibliche Rundungen anschmiegen und die Bewegungen der Trägerin nachvollziehen.
Dabei hielt sich Vionnet immer an eine gewisse Grundordnung: Die Einteilung des Kleides in ein Oberteil, eine abgebundene, betonte Taille und einen Rock, der bis zu den Fußgelenken reicht, brach sie nicht auf, auch wenn ihre Stoffe immer farbiger, die Träger dünner und die Dekolletés tiefer wurden. Sie kreierte Wasserfallkragen, versetzte Kleider mit Pailletten und warf ausladende, reifrockartige Überkleider aus Tüll über die Röcke. Auch das im Nacken geknotete trägerlose Halterneckkleid und das weich fallende Handkerchief- Dress verdanken wir ihr. Ihre Entwürfe entstanden nicht auf Papier, eine zweidimensionale Zeichnung hätte die räumliche Wirkung eines Kleides nicht einfangen können. Alle Schnitte wurden immer zuerst mit einfachem Nesseltuch an einer ca. 80cm hohen Puppe aus Palisanderholz erprobt und von allen Seiten nach einem ausgeklügelten Schema drapiert. Gefiel es der Chefin, wurde das Werk an eine Assistentin übergeben, welche für eine Anfertigung des Schnitts in Originalgröße sorgte. Auch die Auswahl der Stoffe war genau durchdacht – vorrangig wurden elegant fallende Stoffe wie Crêpe romain, Crêpe de chine, Seidenmusselin und Charmeuse verwendet.
In dem Artikel Tipps für das Stoff Zuschneiden findet Ihr Informationen, wie man einen Stoff im Diagonalschnitt am besten zuschneidet.
Ärztin der Silhouette
Vionnets Traumkundin sollte natürlich hochgewachsen, schlank, blond und attraktiv sein. „Wenn ich eine hässliche, untersetzte oder fettleibige Frau bei mir sähe, würde ich sie hinauswerfen“, giftete sie und sie meinte dies ernst. „Mein ganzes Leben lang habe ich versucht eine Art Arzt der Silhouette zu sein und als Arzt wollte ich erreichen, dass meine Kundinnen den eigenen Körper respektieren, sich sportlich betätigen und eine strikte Körperpflege betreiben, damit er für immer von seiner ihn verformenden Rüstung befreit bleibe.“ Sie selbst zählte sich nicht dazu. Exzentrisches Verhalten war ihr fremd, eine Stilikone wollte sie nicht sein. Auf Bildern sieht man stets eine kleine, leicht gedrungene alte Dame mit Brille auf der Nase und einem Buch in der Hand, in ihrem Sessel thronend. Ihr Blick ist aufmerksam, aber streng. „Sie sah aus wie eine Gouvernante, doch ließ andere Frauen wie Göttinnen erscheinen“, fasste es ihre Biografin Valerie Steele zusammen. Vionnet quittierte es mit dem Satz: „Ich habe niemals Kleider für mich selbst entworfen, außer Sackkleider“.
Grande patronne
So wird man ihre Mode nicht mit dem Antlitz einer Person verbinden, sondern stets mit dem Schnitt eines Kleides und mit dem Umstand, dass sie – im Gegensatz zu Coco Chanel – eine großzügige und sozial engagierte „grande patronne“ war . Näherinnen, die von Chanel kamen, empfanden das Haus Vionnet mit seinen lichten riesigen Ateliers, einem eigenen Restaurant, einer Krankenstation, einer Zahnarztpraxis mit kostenloser Behandlungsmöglichkeit wie das „Hotel Ritz“ . Hinzu kam noch bezahlter Urlaub, was für die damaligen Verhältnisse längst keine Selbstverständlichkeit war. In den 1930er Jahren beschäftigte Vionnet 1.200 Arbeiterinnen in der Schnittabteilung, mit der Pelzfertigung und sogar einem eigenen Raum, um Accessoires wie Schleifen oder Stoffrosen zu bügeln. Rund 200.000 Kleider verließen das Haus in jenen Jahren, darunter legendäre Ausstattungen für reiche und berühmte Kundinnen wie Greta Garbo, Marlene Dietrich, Joan Crawford oder Katharine Hepburn und die Herzogin von Windsor.
Der Fingerabdruck
Modellentwürfe für Lizenzen lehnte Madeleine Vionnet weitgehend ab; vor Kopien und Fälschungen hatte sie Angst. So ließ sie jedes Kleid im Atelier abfotografieren und mit einem Copyright versehen, oft auch mit einem Fingerabdruck. Als Vionnet 1940 im Zweiten Weltkrieg abermals schließen musste, endete eine Ära der Eleganz. Sie zog sich in ihr bescheidenes Bauernhaus in Cély zurück, wo sie leidenschaftlich gärtnerte, viel las und nach dem Ende des Kriegs Unterricht im Diagonalschnitt gab. Überhaupt lag ihr wenig an Glamour und Mondänitäten. Sie selbst hielt nicht viel vom Modezirkus. „Wenn man behaupten kann, dass es heutzutage eine Schule Vionnet gibt, dann vor allem deshalb, weil ich gezeigt habe, dass ich die Mode ablehne. Es verbirgt sich in diesen saisonalen, flüchtigen Kapricen etwas Oberflächliches, Instabiles, dass meinen Sinn für Schönheit beleidigt.“ Ihr Leben selbst sah sie im Rückblick so: „Je me suis complètement réalisée” – „ich habe mich vollständig verwirklicht”.