Tradition mit Zukunft
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Die Fachschule M. Müller & Sohn zieht nach Hamburg
Seit nunmehr 131 Jahren existiert das Schnittsystem M. Müller & Sohn. Über fast hundert dieser Jahre, davon siebzig unter der Ägide von Vater und Sohn Köhler, hat die »M. Müller & Sohn, Fachschule für Mode und Schnitttechnik « in Düsseldorf Modellmacher*innen, Schnitt-Techniker*innen, Direktricen und Maßschneider*innen sehr erfolgreich auf die berufliche Karriere vorbereitet. Michael Köhler übergibt sein Lebenswerk und das seines Vaters nun an die Ebner Media Group.
Das System der Zukunft« – das ist ein ambitionierter Name für ein neues Zuschneidesystem. Aber der Münchner Schneidermeister Michael Müller sollte damit recht behalten. Das »Müller-System«, wie es bald hieß, war und ist bis heute das Schnittsystem der Zukunft für die Maßschneiderei und die Bekleidungsbranche.
Das »Müller-System« revolutioniert die Schneiderkunst
Begonnen hat die Erfolgsgeschichte 1891 in München. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der entstehenden Bekleidungsindustrie wurde Ende des 19. Jahrhunderts an Systemen getüftelt,
die den Zuschnitt vereinfachen und rationalisieren sollten. Das von Michael Müller entwickelte Konstruktionssystem auf der Basis proportionaler Berechnung brachte hier eine umwälzende
Neuerung, denn es erfasst die verschiedenen Körperabweichungen, ist einfach anwendbar, zeitsparend und leicht erlernbar. Ein weiteres Verdienst des genialen Schneidermeisters ist es, mit diesem System und den damit verbundenen Verarbeitungstechniken das Schneiderwissen seiner Zeit zusammengefasst, vereinheitlicht und verwissenschaftlich zu haben.
Das »Müller-System« erlebt eine rasante Ausbreitung, befördert vor allem durch die eigene Zuschneideschule, die »Deutsche Bekleidungsakademie«, und den von ihr herausgegebenen Fachjournalen mit Mode- und Schnittbildern. Den vorläufigen Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht die nun in »Zuschneideschule M. Müller & Sohn« umbenannte Fachschule in den 1920er-Jahren mit Zweigniederlassungen in Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Berlin, Frankfurt und Stuttgart sowie Filialen in Wien und Barcelona.
Neue Herausforderungen
Dreißig Jahre später steht die Schule vor der Aufgabe, sich nach den Kriegsjahren neu zu orientieren – mit Erfolg. Die Bekleidungsindustrie hat einen großen Nachholbedarf, die Konfektion benötigt ein effizientes Zuschneidesystem. 1948 kommt ein gewisser Franzjosef Köhler als Fachlehrer zu M. Müller & Sohn. Im Team der Zuschneideschule stellt er das »Müller-System« auf die neuen Anforderungen ein. Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Entwicklung eines praktikablen, zeitsparenden Gradiersystems.
Mitte der 1950er-Jahre übernimmt Franzjosef Köhler die Geschäftsleitung der Niederlassungen Düsseldorf und Hamburg. Der Bekleidungssektor boomt und mit ihm M. Müller & Sohn. Das »Müller-System« wird für viele Meister- und Modeschulen sowie die Bekleidungsindustrie unentbehrlich. In den 1960er-Jahren ist die Zuschneideschule die größte Lehranstalt für Schnitt-Technik und die Ausbildung von Modellmacher*innen, Schnitt-Techniker*innen und Direktricen in ganz Europa.
1982 wird Franzjosef Köhler Inhaber von »M. Müller & Sohn, Fachschule für Mode und Schnitttechnik« mit Niederlassungen in Düsseldorf und Hamburg. Parallel besteht die Schule in München weiter.
Michael Köhler, der Sohn Franzjosef Köhlers, erinnert sich: »Damals wurden wir oft gefragt, ob wir Müller & Sohn Düsseldorf und Hamburg nach der Umwandlung in ein eigenständiges Unternehmen umbenennen wollten, etwa in »Köhler & Sohn«. Das hätte ja gepasst. Aber das haben wir natürlich nicht getan. Weil M. Müller & Sohn nicht nur ein Name ist, sondern eine Marke, die in der ganzen Textilbranche und der Maßschneiderei bekannt ist, die für Qualität, Innovation und eine anspruchsvolle Ausbildung steht, die sich konsequent am Markt und seinen Erfordernissen orientiert. Dieses Alleinstellungsmerkmal gibt man natürlich nicht auf.«
M. Müller & Sohn gab es also von nun an zweimal: in München und in Düsseldorf. Eine Konkurrenzsituation? »Nein«, versichert Michael Köhler, »die hat es nie gegeben. Wir hatten immer Verbindungen undgute Beziehungen zu München, keiner hat im Revier des anderen ›gewildert‹. Im Gegenteil: Als CAD-Systeme für die Schnitt-Technik zum Thema wurden, haben wir uns abgesprochen – München arbeitet mit Gerber, wir mit Lectra. So hatte jeder seine Klientel.«
Offen für neue Entwicklungen und aktuelle Themen
Bereits 1891 hatte Michael Müller klar erkannt, dass es die Kunst des Zuschneidens ist, die das Wesen eines Kleidungsstückes bestimmt und damit auch für die Zufriedenheit des Kunden das wichtigste Kriterium bildet. In einem seiner Lehrbücher schreibt er: »Ein großes Übel, an welchem viele Fachgenossen leiden, ist Unklarheit im Zuschnitt der Kleidungsstücke, und doch ist diese Kunst (als solche können wir es getrost bezeichnen) die erste und hauptsächlichste Grundlage unseres schönen, aber mühevollen Gewerbes.«
Die Kunst des Zuschnitts, das ist es, womit sich Michael Köhler nun seit fast fünfzig Jahren beschäftigt. Er tut es, wie sein Vater, in der Tradition Michael Müllers und das heißt: mit Blick auf die Zukunft. Denn ein Schnittsystem muss nicht nur die optimale Passform garantieren, es muss auch in der Lage sein, neue Entwicklungen in der Technik, neue Materialien und aktuelle Modetrends zu integrieren. Bereits in den 1960er-Jahren werden deshalb Gradierkurse als neue wesentliche Lehrinhalte in das Seminarprogramm aufgenommen. Seit 1986 werden die Absolvent*innen von M. Müller & Sohn Düsseldorf am Schnitt-Computer ausgebildet. Der Blick von Vater und Sohn Köhler richtet sich auch auf das Ausland: Seit den 1960er-Jahren und verstärkt in der Achtzigern finden Auslandslehrgänge etwa in Israel, Ungarn, Portugal, Polen, im damaligen Jugoslawien, in Rumänien, Bulgarien, Dänemark, Russland und Kanada statt.
Beste Berufschancen für Absolvent*innen
»Bei uns machen die Absolvent*innen der Kurse sozusagen den Führerschein als Grundlage für die spätere Berufskarriere«, umschreibt Michael Köhler seine Lehrtätigkeit. »Fahren, also ihre eigene Handschrift entwickeln bzw. die eines Unternehmens mitgestalten, das müssen sie dann später als Modellmacher*innen oder Schnitt-Techniker*innen allein.« Mit solch einem »Führerschein« von M. Müller & Sohn Düsseldorf ist man im Beruf gut unterwegs. Boss, Windsor, Esprit, P&C, C&A, Dressler, Christian Berg, Strellson, Sportalm – dies sind nur einige der Unternehmen, deren Modell- und Schnittabteilungen von Absolvent*innen geleitet werden, die durch Michael Köhlers Schule gegangen sind.
Von Düsseldorf nach Hamburg
Nach vierzig Jahren M. Müller & Sohn in Düsseldorf steht nun wieder eine Zäsur in der mehr als 130-jährigen Erfolgsgeschichte des Schnittsystems Müller & Sohn an. Michael Köhler wird sich aus dem aktiven Arbeitsleben zurückziehen und das Unternehmen an die Ebner Media Group geben. »Es wird Zeit, die Verantwortung an jemand anderen zu übergeben. Mit dem Übergang an die Ebner Media Group wird die Schule nun auch wieder mit der Fachzeitschrift unter dem gleichen Namen vereint«, sieht Michel Köhler in die Zukunft. »Der Umzug der Schule nach Hamburg ist nicht das Wesentliche. Was M. Müller & Sohn ausmacht, ist das Wissen, das wir uns erarbeitet haben und das sich in unseren Lehrprogrammen und Unterlagen manifestiert. Wir sind zurzeit dabei, dieses Wissen zu übergeben, und wir könnten uns gut vorstellen, dass M. Müller & Sohn, Fachschule für Mode und Schnitttechnik auch noch ihr 150-jähriges Jubiläum feiern kann.« Fast hundert Jahre M. Müller & Sohn Düsseldorf, davon siebzig unter der Leitung von Franzjosef und Michael Köhler – da kann man schon von einer Ära sprechen, die mit dem Abschied von Michael Köhler ihren Abschluss findet und zugleich einen neuen Anfang einleitet. Auch wenn der Blick in die Zukunft gerichtet ist – ein wenig Wehmut schwingt doch mit, wenn Michael Köhler sagt: »Es war eine schöne Zeit.«
Wie geht es mit der Fachschule in Hamburg weiter?
M. Müller & Sohn – dieser Titel vereint, wie in den Anfängen, nun wieder die Fachschule und das Fachmagazin. Verantwortlich für beide Bereiche ist Jasmin Clausen als Chefredakteurin
und Leiterin der Schule. Frau Clausen, da liegt ein gewaltiges Stück Arbeit vor Ihnen?
Jasmin Clausen: Wir sind dabei, den Übergang zu gestalten, sind aber jetzt natürlich erst am Anfang. Es ist einiges, das getan werden muss, bevor wir den Lehrbetrieb aufnehmen können. Etwa die Planung der Räumlichkeiten, die Ausstattung der Klassenräume, die Gespräche mit Dozent*innen. Wir halten auch nach günstigen Unterkunftsmöglichkeiten für die Schüler*innen Ausschau. Auch die Zertifizierung der Schule bei der Agentur für Arbeit muss vorgenommen werden, damit die Teilnahme zukünftiger Schüler*innen über Bildungsgutscheine ermöglicht wird.
Soll das Lehrprogramm wie bisher fortgeführt werden oder wird es Modifikationen geben?
Jasmin Clausen: Es ist geplant, dass wir alle Kurse, die in Düsseldorf angeboten wurden, auch hier in Hamburg stattfinden lassen. Wir beginnen zunächst mit dem Schnittkonstruktionslehrgang
für Damen- und Herrenbekleidung und arbeiten parallel weiter an der Gestaltung der Einzel- und Kombinationsseminare, also Gradieren, Modezeichnung, Entwurf und vieles mehr. Natürlich müssen auch die passenden Dozentinnen und Dozenten gefunden werden.
Wie wird die Kontinuität des Übergangs von Düsseldorf nach Hamburg sichergestellt?
Jasmin Clausen: Hierbei geht es ja in erster Linie um die Inhalte. Herr Köhler hat uns das gesamte Lehrmaterial übergeben. Dies werden wir nutzen, um mit den Inhalten weiter zu unterrichten und die Schule weiterzuführen. Herr Köhler hat angeboten, diesen Prozess des Übergangs persönlich zu unterstützen. Das Angebot werden wir gerne in Anspruch nehmen.
M. Müller & Sohn Düsseldorf war bisher der alleinige Lizenzinhaber des Schnittsystems. Wie werden Lizenzvergaben in Zukunft gehandhabt?
Jasmin Clausen: Die Ebner Media Group ist jetzt Eigentümer der Lizenz am Schnittsystem M. Müller & Sohn. Das heißt, Schulen, Unternehmen oder auch Einzelpersonen dürfen nur mit einem Lizenzvertrag nach unserem Schnittsystem unterrichten. Wir werden unterschiedliche Lizenzmodelle anbieten. Wenn es dazu Nachfragen gibt, können sich Interessent*innen jederzeit gerne bei mir melden. In den kommenden Ausgaben von M. Müller & Sohn werden wir unsere Leser*innen weiter über den aktuellen Stand der Dinge informieren. (K.H.Zonbergs)
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