{"id":2706,"date":"2021-08-03T08:00:24","date_gmt":"2021-08-03T06:00:24","guid":{"rendered":"https:\/\/www.muellerundsohn.com\/?p=2706"},"modified":"2021-08-03T09:18:14","modified_gmt":"2021-08-03T07:18:14","slug":"das-bewegte-kleid-portrait","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.muellerundsohn.com\/allgemein\/das-bewegte-kleid-portrait\/","title":{"rendered":"Das bewegte Kleid – Portrait Madeleine Vionnet"},"content":{"rendered":"
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Madeleine Vionnet<\/strong> \u2013 Die Kunst sei die Reduktion auf das Wesentliche, sagte einst ein kluger Kopf. So gesehen war die franz\u00f6sische Modesch\u00f6pferin Madeleine Vionnet eine ganz gro\u00dfe K\u00fcnstlerin. Ihre Schnitte bildeten meist nicht mehr als simple geometrische Grundformen wie Rechteck, Dreieck oder Kreis ab. Kunstvoll drapiert aber entstanden daraus zeitlos sch\u00f6ne Roben, die ohne Futter und das ganze Aufgebot an Kn\u00f6pfen, Schleifen, H\u00e4kchen, R\u00fcschen und Spitzen auskamen und das \u201eorthop\u00e4dische Ding\u201d, das Korsett, \u00fcberfl\u00fcssig werden lie\u00dfen.\u00a0Sie war wohl die einzige Modesch\u00f6pferin, der die Kunst gelang, aus vier gleich gro\u00dfen, rechteckigen Stoffteilen eine \u00fcberw\u00e4ltigende Abendrobe zu machen, die nicht wie ein nasser Sack an seiner Tr\u00e4gerin herunterhing.<\/p>\n Als Madeleine Vionnet 1975 hochbetagt im Alter von fast 99 Jahren in Chilleurs-aux- Bois, Loiret verstarb, k\u00fcrte Diana Vreeland, die ehemalige Chefredakteurin der amerikanischen Vogue sie zur \u201ewichtigsten Modesch\u00f6pferin des 20. Jahrhunderts\u201c. F\u00fcr Cristobal Balenciaga war sie gar eine \u201eMeisterin des Stils\u201c. Und Azzedine Ala\u00a8\u0131a nannte sie \u201edie Quelle von allem, die in unserem Unbewussten weiterlebt\u201c. Soviel Ansehen war Madeleine Vionnet zeitlebens nur bedingt verg\u00f6nnt, obwohl sie beinahe drei\u00dfig Jahre lang den Kleidungskodex von Paris pr\u00e4gte. \u201eIch habe gezeigt\u201c, sagte sie stolz, \u201edass ein Stoff, der ohne Panzerung frei \u00fcber einem K\u00f6rper liegt, ein harmonisches Spektakel par excellence sein kann.\u201d Dennoch sahnten ihre beiden Erzrivalinnen Elsa Schiaparelli und Coco Chanel den Ruhm ab, auch weil die sich besser zu vermarkten wussten und sich als exzentrische Stilikonen inszenierten. Das lag Vionnet \u00fcberhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihnen, die autodidaktisch zu ihrer Kunst gekommen waren, hatte sie das N\u00e4hhandwerk von der Pike auf erlernt.<\/p>\n Schockierte Verk\u00e4uferinnen<\/strong><\/p>\n Am 22. Juni 1876 in Chilleursaux-Bois, in der N\u00e4he von Orl\u00e9ans geboren, wuchs sie nach der Scheidung ihrer Eltern in Aubervilliers, an der\u00a0schweizerisch-franz\u00f6sischen Grenze bei ihrem Vater auf. Obwohl sie eine begabte Sch\u00fclerin war gab der Vater\u00a0 sie in eine Schneiderlehre in Paris. Mit kaum zwanzig Jahren ging sie nach London, um sich im Modehaus von Kate Reilly fortzubilden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits eine Ehe hinter sich und ihr neun Monate altes Kind zu Grabe getragen. F\u00fcnf Jahre sp\u00e4ter heuerte sie wieder in Paris an, zun\u00e4chst als Zuschneiderin von Nesselstoffmodellen und Schnittentwerferin im Modeatelier Callot Soeurs, dann bei Jacques Doucet, der ihr anbot eine eigene Linie zu verwirklichen. Ihre ersten hauchzarten, an D\u00e9shabill\u00e9s orientierten Gew\u00e4nder ohne Korsett emp\u00f6rten nicht wenige, Verk\u00e4uferinnen weigerten sich, die \u201ew\u00e4schigen\u201c Entw\u00fcrfe anzubieten.<\/p>\n Doch sie lie\u00df sich nicht beirren: Mit einem Startkapital von 100.000 gesparten und 200.000 geborgten Francs er\u00f6ffnete sie 1912 ihren ersten eigenen Salon in der Pariser Rue de Rivoli Nummer 222, musste ihn aber bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wieder schlie\u00dfen. 1922 er\u00f6ffnete sie ein neues Haus Vionnet auf der\u00a0Avenue Montaigne. Hier konnte sie nun endlich ihre freie Art des Entwurfs verfeinern und perfektionieren. Eine Architektur des Kleides entstand, zeitenthoben sch\u00f6n, mit mal schlicht geraden, dann aber wieder reich bewegtem Faltenwurf, inspiriert von den Gew\u00e4ndern auf den Vasen und Skulpturen der griechischen Antike. Von nun an zierten Fresken auf denen griechische Sch\u00f6nheiten in Vionnet-Entw\u00fcrfen zu sehen waren, die W\u00e4nde ihres Modehauses in der Avenue Montaigne. Das Interesse daf\u00fcr hatte in ihr wom\u00f6glich die T\u00e4nzerin Isadora Duncan\u00a0 (1877-1927) geweckt, die seinerzeit den altgriechischen Chortanz zu neuem Ausdruck verholfen hatte.<\/p>\n <\/p>\n Der Diagonalschnitt<\/strong><\/p>\n Vionnets Credo blieb stets das gleiche: \u201eWenn eine Frau l\u00e4chelt, muss ihr Kleid mit ihr l\u00e4cheln\u201c. Issey Miyake, selbst ein Schnittmeister unter den Designern, brachte es auf dem Punkt: \u201eIch glaubte, dass die Nike-Statue durch die Kleider der Vionnet wieder zum Leben erweckt worden sei. Sie hatte den sch\u00f6nsten Aspekt der klassischen griechischen \u00c4sthetik eingefangen: den K\u00f6rper und die Bewegung.\u201c Gelingen konnte dies nur durch eine fast mathematisch genaue Umsetzung ihrer Beobachtungen im geometrischen Schnitt eines Kleides. Durch Zufall hatte sie\u00a0eine Technik entdeckt, die noch heute zu den wichtigsten Techniken der Haute Couture z\u00e4hlt: der Diagonalschnitt. Beim Drapieren eines Stoffes um eine Holzpuppe hatte sie festgestellt, dass der Stoff, diagonal gelegt, sehr viel besser falle. So entstand der k\u00f6rperbetonte Bias-Cut: Der Stoff wird nicht wie \u00fcblich parallel, sondern schr\u00e4g zum Fadenverlauf im 45-Grad-Winkel zugeschnitten und umspielt dadurch die Silhouette flie\u00dfend. Durch den Diagonalschnitt konnte sich der Stoff an weibliche Rundungen anschmiegen und die Bewegungen der Tr\u00e4gerin nachvollziehen.<\/p>\n Dabei hielt sich Vionnet immer an eine gewisse Grundordnung: Die Einteilung des Kleides in ein Oberteil, eine abgebundene, betonte Taille und einen Rock, der bis zu den Fu\u00dfgelenken reicht, brach sie nicht auf, auch wenn ihre Stoffe immer farbiger, die Tr\u00e4ger d\u00fcnner und die Dekollet\u00e9s tiefer wurden. Sie kreierte Wasserfallkragen, versetzte Kleider mit Pailletten und warf ausladende, reifrockartige \u00dcberkleider aus T\u00fcll \u00fcber die R\u00f6cke. Auch das im Nacken geknotete tr\u00e4gerlose Halterneckkleid und das weich fallende Handkerchief- Dress verdanken wir ihr. Ihre Entw\u00fcrfe entstanden nicht auf Papier, eine zweidimensionale Zeichnung h\u00e4tte die r\u00e4umliche Wirkung eines Kleides nicht einfangen k\u00f6nnen. Alle Schnitte wurden immer zuerst mit einfachem Nesseltuch an einer ca. 80cm hohen Puppe aus Palisanderholz erprobt und von allen Seiten nach einem ausgekl\u00fcgelten Schema drapiert. Gefiel es der Chefin, wurde das Werk an eine Assistentin \u00fcbergeben, welche f\u00fcr eine Anfertigung des Schnitts in Originalgr\u00f6\u00dfe sorgte. Auch die Auswahl der Stoffe war genau durchdacht – vorrangig wurden elegant fallende Stoffe wie Cr\u00eape romain, Cr\u00eape de chine, Seidenmusselin und Charmeuse verwendet.<\/p>\n